Vor mehr als 700 Jahren wurde St. Alexandri-Chor gebaut

Romanische Basilika war Vorgängerkirche / Grablege von Heinrich Mitabilis / Sprechende Steine / Rätselhafter Chor

Fast 200 Jahre stand an der Stelle der heutigen Münsterkirche eine romanische Basilika – bis sich der damalige, erst 21 Jahre junge Landesfürst Herzog Heinrich I. von Braunschweig zum Bau einer neuen Kirche in Einbeck entschloss. In dieser neuen, viel größeren Kirche wollte er später begraben werden. Um das Jahr 1290 herum begann man östlich der alten Kirche mit dem Chor den ersten Bauabschnitt im neuen gotischen Stil zu errichten.

Einbeck. Als die Baumeister des Herzogs mit dem Chor begannen, war die gotische Baukunst in Frankreich schon seit über 100 Jahren in Mode. Zur Zeit der Romanik hatte man die Kirchen noch mit wuchtigen Mauern, niedrigen Kirchenschiffen und relativ kleinen, rundbogigen Fenstern erbaut, denn sie mussten nicht nur kirchliche Zwecke erfüllen. Im Verteidigungsfall wurde das Gotteshaus zur Wehrkirche. Jetzt wollten die Baumeister mit den neuen, zum Himmel strebenden Gotteshäusern einen Bezug zum himmlischen Jerusalem herstellen.

Mit Strebepfeilern, die die Kirchen von außen stützten, erreichten sie, dass die Kirchenschiffe und Chöre so hoch gebaut werden konnten, wie niemals zuvor. Gleichzeitig war man in der Lage, die Mauern so zu durchbrechen, dass die Kirchen breite und hohe Fenster erhielten. In Norddeutschland konnte der neue Baustil erst im 13. Jahrhundert Fuß fassen.

Einbecker Landesfürst war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Albrecht der Große, der Begründer des »Älteren Hauses Braunschweig«. Als er 1279 starb, hinterließ er sechs junge Söhne. Drei der sechs Brüder übernahmen die Regierung – zunächst noch unter Vormundschaft, später regierten sie gemeinsam. Nach acht Jahren entzweiten sich die Brüder. Sie teilten ihr Land untereinander auf. Der älteste Bruder, Heinrich, wurde der erste Herzog von Grubenhagen und damit zum Herrscher über die Einbecker.

Um 1290 wurde »nach kunsthistorischer Einschätzung« mit dem Bau des Chores von St. Alexandri begonnen. 1291 begann die Regierungszeit des Gründers der grubenhagenschen Linie. Demnach könnte der Bau in diesem Jahr begonnen worden sein – bereits drei Jahre zuvor hatte Herzog Heinrich I. von Braunschweig ein kostbares Chorgestühl (heute das einzige datierte und vollständig erhaltene in Deutschland) für die Kirche gestiftet.Der Herzog, auch Mirabilis, der Wunderbare genannt (manchmal auch der Wunderliche), hatte in Einbeck den geeigneten Platz für seine spätere Begräbnisstätte gefunden und war als Bauherr die treibende Kraft für den Bau eines neuen Gotteshauses. Zu Hilfe kamen ihm dabei wohl die als wundertätig verehrten Tropfen des Blutes Christi, die Einbeck bereits im zwölften Jahrhundert zum viel besuchten Wallfahrtsort werden ließen.

Grundsätzlich begann man mit dem Bau einer neuen Kirche im Osten. Nach Jerusalem gewendet, wurde zuerst der Chor gebaut. Damit während der Bauarbeiten der Gottesdienst weiterhin ungestört stattfinden konnte, war es üblich, die alten Kirchen nur Stück für Stück abzutragen und so lange wie möglich noch zu nutzen. Die Baustelle im Chorbereich wurde mit einer Mauer vom Rest des Kirchenschiffes getrennt. Damit konnte man die alte Kirche, die so auch einigermaßen gegen die Witterung geschützt war, weiter benutzen. Die Münsterkirche wurde also nicht in einem Zuge, sondern in mehreren Bauabschnitten langsam von Osten nach Westen errichtet.

Der Chor war im Mittelalter die eigentliche Kirche der Stiftsherren, das einfache Volk hatte hier keinen Zutritt. Üblicherweise waren Kirchenschiff und Chor durch einen Lettner getrennt, um diese Abgrenzung auch optisch sichtbar zu machen. So hatte man zwar in der Kirche ein kostbares Chorgestühl – doch zu sehen bekamen es nur die Geistlichen.

Pastor Johannes Letzner schrieb Ende des 16. Jahrhunderts in seiner Chronik über die Bauarbeiten an der Kirche: »Aus einem Fracment des domaligen Bauregisters hat man noch so viel zu vernehmen/ das man einem Steinhauer des Tages drey kleine domalige gangbare Pfennig gegeben hat/ dazu hat einer für dem andern den Steinhauern die Kost zugeben sich erboten. Item es sey kein Tag hingangen/ das nicht Leut kommen sein/ die nicht in die dazu gemacheten und auffgerichteten Stöcke Gelt zu beförderung dieses Gebäues geben haben«.

Die Abrechnungen der mittelalterlichen Steinmetze sind übrigens noch heute zu sehen. Sie schlugen ihre Steinmetzzeichen in den Sandstein und markierten damit ihre Arbeitsabschnitte. Jeder Steinmetz hatte ein anderes Zeichen – so kann man die Menge und Qualität der Arbeit bis heute an den »sprechenden Steinen« der Kirche ablesen.

Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb Klaus-Günther Ziegahn in seiner Doktorarbeit über die Einbecker Münsterkirche: »Der Hochchor der Stiftskirche St. Alexandri wird von zwei rechteckigen Kreuzrippengewölben im Vorchor und einem sechsteiligem Rippengewölbe im Chorhaupt überdeckt. Die Kreuzgewölbe sind leicht gestochen, und werden durch eine Rippe voneinander, durch breite Gurtbogen mit abgefaßten Kanten vom Chorhaupt und von Vierung getrennt. Alle Gewölbe ruhen auf Schildrippen … die großen Schlußsteine der Gewölbe sind mit vollplastisch wirkenden Figuren verziert.«Im Jahre 1300 wurde dem Probst der Kirche das geistliche Gericht in Einbeck übertragen. Er übernahm damit die Aufsicht über die Einbecker Kirchen und Klöster. Nur das Stift Beatae Mariae Virginis vor dem Tiedexer Tor, das ebenfalls von Herzog Heinrich gegründet wurde, blieb selbstständig.

Dass sich die Baumeister in Einbeck nicht ganz vom romanischen Stil lossagen konnten, zeigt, dass gleichzeitig mit dem Chor eine Krypta (Kirchengruft) gebaut wurde, was eher untypisch für die gotische Bauweise ist. Die Krypta von St. Alexandri in Einbeck gibt auch heute noch Rätsel auf. Geht man die Treppe hinunter und schaut zur Wand, dann erkennt man Säulen, die keine Bögen stützen und ein Bogenkapitell, dem die Säule fehlt. Nach einer für das Mittelalter durchaus üblichen Bauzeit von etwa 25 Jahren waren Chor und Krypta fertig gestellt. Dies zeigt ein Ablassbrief aus dem Jahr 1313, welcher allen Menschen, die für den Bau der Kirche gespendet oder gebetet hatten, nach dem Jüngsten Gericht einen 40-tägigen Ablass ihrer Sünden gewährte. Nach Letzner ist »Der hohe Chor/ zuhampt der gewelbeten Klufft/ und den daneben angebaueten Cappellen/ ist der anfang der neuen Kirchen/ und demnach das elteste/ und Anno 1316. verfertigt«.

Brauchte man für den Chor 25 Jahre, dauerte es weitere 100 Jahre, bis drei von vier Joche der Kirche (Gewände-Abschnitte mit Bogenfenstern) fertig gestellt waren. Davon zeugen mehrere Jahreszahlen (von 1404 bis 1416) unter dem Dach und an einer Säule. Insgesamt sollte es aber mehr als 400 Jahre dauern, bis die Münsterkirche im 18. Jahrhundert ihr heutiges Aussehen bekam.wk