Vorsicht, wenn das virtuelle Leben das reale überholt

Gut besuchter Vortrag von FIPS und Beratungsstelle für Lebens- und Beziehungsfragen zum Thema Suchtverhalten und Internet

Das Thema fand Anklang: Vor großer Zuschauerkulisse haben Experten der Fachstelle für exzessiven Medienkonsum, »return« aus Hannover, einen Vortragsabend über das Internet zwischen Faszination und Kontrollverlust gehalten. Eingeladen hatten die Beratungsstelle für Lebens- und Beziehungsfragen des Arbeitskreises für Christliche Sozialarbeit sowie der Verein für Integration, Prävention und Sozialarbeit, FIPS. Schwerpunkte waren der Umgang mit sozialen Netzwerken, Computerspiele und Spielsucht sowie pornografische Inhalte im Internet.

Einbeck.  Der Zuspruch zeige, dass man mit dem gemeinsamen Angebot das richtige Thema getroffen habe, stellten Joachim Voges und Stefan Jagonak für die beiden Veranstalter fest. Das Internet bringe zwar viele Vorteile, es stelle aber auch eine Gefahr dar: Wann kann es zum Problem werden, wann gilt jemand als abhängig, diese Fragen wurden an diesem Abend beantwortet.

Anstelle des angekündigten Referenten Eberhard Freitag, der kurzfristig erkrankt war, gestalteten seine »return«-Kollegen, die Sozialpädagogen Johanna Labahn und Matthias Bald, den Abend. Ähnlich wie bei illegalem Drogenkonsum könne das Leben auch in online-Foren entgleiten. Aber was machen Jugendliche im Internet, beispielsweise in sozialen Netzwerken wie Facebook, in welcher Lebenswelt bewegen sie sich dort? Während Jungen häufiger Spiele nutzen, liegt der Schwerpunkt der Computernutzung von Frauen auf der Kommunikation und Online-Foren.

»Normmale Kummunikation«

Generell werden Online- und Chatforen von bis zu 70 Prozent der 14- bis 19-Jährigen täglich oder mindestens einmal pro Woche genutzt. »Für die junge Generation ist das eine normale Kommunikationsmöglichkeit«, stellte Johanna Labahn fest. Virtuelle Kommunikation sei attraktiv, biete sie doch viele Möglichkeiten und Vorteile. Die veränderte Selbstdarstellung zähle ebenso dazu wie die Chance, sich jederzeit Ablenkung zu verschaffen. »On« zu sein« bedeute, dabei zu sein, schaffe ein oberflächliches Gefühl von Gemeinschaft. Man könne soziale Ängste überwinden und Unangenehmes einfach wegklicken. Zu den Vorteilen zähle, dass man mit auch mit entfernten Freunden Kontakt halten könne. Man lerne andere einfacher kennen, es gebe ein geringes Risiko von Nähe und Kontrollverlust, und man könne viele Menschen gleichzeitig erreichen. Informationen aus unterschiedlichen Bereichen könnten schnell ausgetauscht werden. Dass immer jemand »da« sei, könne als Vor- und als Nachteil angesehen werden. Negativ sei sicher der Druck, immer »on« sein zu müssen. Die Informationsflut könne überfordern, der Datenschutz sei schlecht, die Nutzer seien Cyber-Mobbing ausgesetzt, und es könne zu Missverständnissen durch Fehlinterpretationen von Aussagen kommen. Außerdem bestehe die Gefahr des exzessiven Konsums. Der Umgang mit Sehnsüchten stehe einer gewissen Oberflächlichkeit gegenüber. Den Unterschied zwischen vertraulichen und öffentlichen Informationen könnten Kinder nur durch privaten Kontakt mit Eltern lernen – im Chat sei das gar nicht möglich. Und so sollte man sich Kompetenz zuerst im »echten« Leben aneignen, um sie später auch in der Online-Kommunikation zu nutzen, so Labahns Ratschlag. Grundsätzlich positiv sah auch Matthias Bald die Möglichkeiten des Internets, aber man müsse die Folgen im Blick behalten. Wer sich in eine virtuelle Welt flüchte und bei Enttäuschungen die Löschen-Taste drücke, werde in der realen Welt schwer zurecht kommen. Eine enorme Faszinationskraft hätten Computerspiele, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Auch Erwachsene könnten beim Zocken total abtauchen und Raum und Zeit vergessen. 2009 wurde ermittelt, das 4,3 Prozent der Mädchen und 15,8 Prozent der Jungen mehr als viereinhalb Stunden täglich mit Computerspielen verbringen würden. Drei Prozent der Jungen müssten als abhängig gelten. 560.000 Deutsche sind internetsüchtig, das ergab eine Pinta-Studie vom November 2011, und durch Online-Foren seien Mädchen hier stärker gefährdet als Jungen.

Balance zwischen Stress und Angst und zwischen Frust und LangeweileDie Faszinationskraft der Spiele liege im emotionalen Bereich. Deshalb müsse man, wenn man Jugendlichen hier begegnen wolle, eine Wertschätzung dafür entwickeln. Erst dann hätten kritische Anmerkungen und Bedenken eine Chance auf Anerkennung. Attraktiv seien die Spiele beispielsweise wegen ihres Wettstreit-Charakters. Man könne in fremde Rollen schlüpfen, werde als echter Held unbesiegbar, finde Vorbilder, könne Macht, Herrschaft und Kontrolle ausüben, müsse klare Strukturen und Regeln befolgen und komplexe Kompetenzen erwerben. Die soziale Gemeinschaft biete die Möglichkeit, Teil von etwas Größerem zu sein, s gebe einen Auftrag und ein klares Ziel, für dessen Erreichen eine Belohnung ausgesetzt sei. Übersinnlichkeit spiele ebenso eine Rolle wie Ängste und Gefahren, die überwunden werden müssten.

Der Spieler gerate häufig in einen Flow, dann verschmelze die Handlung mit dem Bewusstsein. Hier finde er die perfekte Balance zwischen Stress und Angst auf der einen und Frust und Langeweile auf der anderen Seite. In der Beratung komme es darauf an, jemanden aus dem Flow herauzuholen beziehungsweise ein Ausscheren nach oben oder unten zu nutzen. Die Therapie müsse aufzeigen, dass das reale das virtuelle Leben an Attraktivität überbieten könne, auch wenn es Ecken und Kanten aufweise. Dazu müsse man Anregungen geben, wie die reale Lebenswelt attraktiver gestaltet weden könne. Wichtige soziale Kompetenzen wie etwa das Aushalten von Spannungen erwerbe man nur in der Realität, nicht in Coputerspielen.

Wann ist die Sucht da – diese Frage sei nur individuell zu beantworten. Entscheidend, führte Bald aus, sei nicht die Zeit, sondern wie man mit persönlichen Bedürfnissen umgehe oder ob man etwa Verantwortung vernachlässige. Wenn jemand mit Computerspielen Emotionen steuere, bestehe ebenfalls Alarmbereitschaft. Klare Regeln, so der Hinweis an Eltern, seien hilfreich, und einhalten sollte man auch Altersbegrenzungen bei Spielen. Auch in der Schule könne Medienkonsum im Rahmen von Präventionsprogrammen zum Thema werden. Dass rund fünf Prozent der Jugendlichen abhängig seien, bedeute, dass 95 Prozent ihren Umgang im Griff hätten, und hier liege ein großes Potenzial. Große Missbrauchsgefahr

Größer als vermutet ist die Verbreitung von Pornografie im Internet. Den Erstkontakt haben Kinder in der Regel mit elf Jahren. 80 Prozent der 15- bis 17-Jährigen haben bereits mehrfach Hardcore-Pornografie angesehen, 96 Prozent der Jungen und 89 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren haben pornografische Inhalte konsumiert. Hier bestehe hohe Miss-brauchsgefahr, warnten Labahn und Bald. Deshalb sollten Eltern diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit schenken. Bei ihnen liege die Verantwortung, zumal man auf entsprechenden Seiten schnell landen könne. Es sei schwierig, von offizieller Seite Zugänge zu sperren. Als gefährlich stuften die Referenten das falsche Bild ein, dass Pornogafie den Jugendlichen von Sexualität und Partnerschaft vermittele. Sie erhielten dabei vorgefertigte Bilder, hinter denen eine echte Beziehung vermutlich zurückbleibe und die einer späteren tragfähigen Beziehung im Weg stehen könnten.ek