Wachsam bleiben: Frieden ist nicht selbstverständlich

Ökumenischer Gottesdienst und Gedenkfeier am Ehrenmal zum Volkstrauertag | 2014 besonderes Jahr des Gedenkens

Gibt es nur Gut und Böse, Angst machen und Angst haben, oder existiert auch ein dritter Weg, der es möglich macht, rechtzeitig auf Krisen zu reagieren und Probleme zu lösen, bevor es zu Gewalt kommt? Um das Leben »jenseits von Eden« und die Gewalt zwischen Kain und Abel, die Brüder aus dem Alten Testament, ging es im ökumenischen Gedenkgottesdienst zum Volkstrauertag.

Einbeck. In ihrer Ansprache in der Münsterkirche lobte Bürgermeisterin Dr. Sabine Michalek, die Vorsitzende des Ortsverbandes des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist, die gute Tradition des gemeinsamen Gottesdienstes. Die Gedenkfeier führe unterschiedliche Teilnehmer zusammen: Einige hätten Nazi-Terror, Bomben und Flucht noch selbst erlebt, andere gehörten zur Nachkriegsgeneration, Jüngere würden ein Leben in Frieden und Freiheit als normal empfinden. Dem Gedenken der Opfer von Krieg, Gewalt und Verfolgung sei dieser Tag gewidmet, sagte sie.

»Versöhnung über den Gräbern, Arbeit für den Frieden«, dieses Motto habe sich der Volksbund gegeben. Dabei sei der Tag diesmal von besonderer Bedeutung: Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg, und vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer. Der Erste Weltkrieg werde zu Recht die Urkatastrophe des 20-Jahrhunderts genannt, die zivilisierte Welt sei in Abgründe gefallen. Propagandistisch wurde er jahrelang vorbereitetet, romantisiert opferten sich die ersten Freiwilligen auf. Mit seinem Ende standen die Zeichen ab 1918 für Deutschland auf Revanche. Diese Gedanken hätten den Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen ermöglicht, mit 55 Millionen Toten und vielen Ländern in Schutt und Asche. Der Erste Weltkrieg habe die Voraussetzungen für die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, für Nationalsozialismus und Kommunismus, gelegt und für eine geteilte Welt. Die friedliche Revolution und der Sieg der Freiheit 1989 seien Geschenk und Chance gewesen, erinnerte die Bürgermeisterin, die Tür zur Einheit Deutschlands sei aufgeschlagen worden.

Der Volkstrauertag rufe dazu auf, sich bewusst zu machen, welche Prägung die Geschichte hinterlassen habe, und er ermutige, die Herausforderungen der Zukunft zu erkennen, die Aufmerksamkeit zu schärfen und zu warnen, denn Frieden und Versöhnung seien nicht selbstverständlich. Die europäische Geschichte sei eine Lerngeschichte mit Krieg und Katastrophen. Darin bleibe man aber nicht stehen, sondern sie werde weitergeschrieben. Und hier müsse man den Blick werfen auf die toten Flüchtlinge im Mittelmeer, auf das Leid in Syrien und ­anderswo. Sie rief dazu auf, für Frieden und Unabhängigkeit einzutreten, Opfern Gerechtigkeit zukommen zu lassen und Toleranz zu zeigen sowie Menschen eine Zukunft zu geben. »Lassen Sie uns heute handeln und hilfreich sein, um den Opfern von Krieg und Gewalt gerecht zu werden«, appellierte sie an die Gottesdienstbesucher.Die biblischen Lesungen beschäftigten sich mit Kain und Abel sowie mit dem Weg zurück nach Eden. Darauf ging auch Pastor Martin Giering in seiner Predigt ein. Häufig sehe man nur zwei Wege: Treten oder getreten werden, ducken oder zurückschlagen, Angst haben oder Angst machen. Kain und Abel hätten sich nicht wie Brüder verhalten, sondern wie Konkurrenten, und das habe zur Katastrophe geführt: Kain habe Abel erschlagen. »Kain und Abel, das ist auch unserer Geschichte«, so Giering. Sie habe sich in den Kriegen tausende Male wiederholt. Es seien deshalb Hinweise wichtig, wie es anders kommen könnte: »Helfen Sie mit, Abel und damit Kain zu retten.« Ein Vorschlag sei, gemeinsam zu teilen und zu feiern. Anstelle von getrennten hätten sie ein gemeinsames Opfer bringen können, das Gott gesehen hätte. Wer miteinander getanzt und geweint habe, könne Konflikte im ­Vorfeld entschärfen. Als Beispiel nannte er den früheren Erbfeind Frankreich: Durch viele Schritte aufeinander zu, etwa in Schul- oder Städtepartnerschaften, sei ein »kleines Wunder« geschehen. Kain habe finster den Blick gesenkt, heiße es in der Bibel. Wer den Blick dagegen erhebe, weite ihn und könne Wahrheit sehe. Das erste Opfer im Krieg sei immer die Wahrheit. Deshalb sollte man aufmerksam sein, wo mit zweierlei Maß gemessen  und vorschnell ein Schuldiger gefunden werde.Schließlich sei Selbstdisziplin hilfreich. Gott rufe dazu auf, Verführung zu erkennen und sich zu beherrschen. Wer nur den Kain- oder den Abel-Weg sehe, wer Entscheidungen als »alternativlos« bezeichne, dessen Blick bleibe auf dem Boden.

Kain sei ein Opfer der Sünde gewesen. Gott habe nicht eingegriffen, weil er den Menschen Freiheit gebe, auch zu Bösem. Doch die Aussage, man sei nicht des Bruders Hüter, dürfe nicht die letzte Antwort sein. Gott vergesse die Opfer nicht, das sei die gute Nachricht für die Abels dieser Welt. Gott entscheide sich aber nicht nur für eine Seite, sondern Kain bekomme einen Fluch als Konsequenz der Tat. Gott gebe ihn nicht preis, sondern setze ein Zeichen, das ihn unter Schutz stelle. Auch der Mörder bleibe somit Mensch, werde nicht zum Freiwild für selbsternannte Rächer.

Ein »Kaibel« sei keine die Lösung für das Problem, so Pastor Giering. Vielmehr sollte man das Haupt erheben und die nahe Erlösung sehen. Jesus habe den dritten Weg gezeigt, er habe Spielräume des Handelns erweitert. In seiner Liebe könne man neue Wege der Versöhnung suchen. »Dazu schenke uns Gott seinen Geist.« Der Gottesdienst wurde gestaltet von Vertretern der christlichen Gemeinden in Einbeck: Neben Pastor Martin Giering wirkten Marlis Grascha, Gudrun und Johannes Machens und Joachim Voges mit. Musikalisch begleitet wurde die Feier von Martina Rehse, Orgel, und einem Instrumentalensemble junger Musiker der Goetheschule unter der Leitung von Malte Splittgerber. Bei der Feier am Mahnmal spielte die Bläsergemeinschaft Kuventhal-Einbeck unter der Leitung von Willi Hoppe.ek