Stadtgeschichte in 180.000 Dateien

Sammler-Portrait: An Walter-Wilhelm Funckes Archiv hätte Kempowski Freude

Einbeck. Einbecks Kreishauptmänner …. Da ist das verschlagwortete Stichwort im PC und die Ausarbeitungen dazu, von 1868 bis 1885. Hier befinden sich auch die Fotos, Kopien von Ernennungsurkunden von Kaiser Wilhelm II. sowie Bekanntmachungs- und auch Todesanzeigen aus dem Kreisblatt: Carl Rüppell, Hermann Quensell, Theodor Fachtmann. Walter-Wilhelm Funcke hat alles sofort parat.

Stadtgeschichtliches Interesse besaß der Pensionär schon immer. Zwar ist er, weil sein Vater als Zollbeamter dorthin versetzt wurde, in Litzmannstadt geboren, aber die Vorfahren stammen aus Einbeck, und er selbst wuchs hier ebenfalls auf. Im Ruhestand, seit 2005, erwuchs aus dem Interesse die stadtgeschichtliche Sammlung - Walter Kempowski durchaus vergleichbar.

Einen Satz von Hellmut Hainski zitiert er: »Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, nichts so interessant wie die Zeitung von vorgestern.« So geht es ihm ebenfalls. 163 Ordner füllen die Schränke im Arbeitszimmer, nach Einbecker Themen geordnet: Straßen, Personen, Schulen, Firmen, Landwehrtürme, Vereine, Friedhöfe, Gewässer, um nur einiges zu nennen. Darin akribisch geordnet Abbildungen, Fotos, Baupläne, Ansichtskarten, Anzeigen und Schriftstücke.

Vieles ist eigenes Material. Vieles leiht er sich, um es zu kopieren oder zu fotografieren und dann sofort zurückzugeben, einiges wird ihm in den Briefkasten gesteckt. Von 119 Personen und Firmen erhielt er bereits Material, hat er aufgelistet. Ausführlich konnte er beim Zusammentragen seiner Unterlagen die Archive von Hellmut Hainski und Werner Zänker nutzen, die Unterstützung von Gerd Hillebrecht bei Kirchendaten und Stammbäumen sowie Dokumente und Fotos der verstorbenen Ulrich Peetz, Klaus Rudloff und Erich Strauß.

Gespräche mit Zeitzeugen sind ihm natürlich sehr wichtig. Als ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter des Geschichtsvereins kann er im Stadtarchiv recherchieren. Dazu kommen noch Ordner mit Material über die Stadt Artern seit 1990, deren Ehrenbürger er seit 1993 ist »in dankbarer Anerkennung seiner vielfältigen Hilfeleistungen für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen in Artern, insbesondere für unsere älteren Menschen«.

Für diese und besondere Verdienste im Rahmen der Wiedervereinigung erhielt Funcke übrigens 2004 von Bundespräsident Horst Köhler das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik. Sein PC und die externen Speicher - sicher ist sicher - zählen bisher 180.000 Dateien. So kann nicht nur im Themenordner nachgeschaut werden, sondern auch chronologisch in den entsprechenden Zeitungsdateien wie Südhannoversche Zeitung, Einbecksches Wochenblatt und Kreisblatt. Seine Datenbank von Zeitungsausschnitten seit 1810 beläuft sich auf rund 95.000 Fotos.

Vier bis acht Stunden pro Tag arbeitet er zwischen Dokumenten, PC, Scanner, Drucker, Quellen-Literatur wie den selbst erworbenen alten Zeitungsjahrgängen, zum Beispiel das Einbecksche Wochenblatt von 1858 oder etwa »Mutters Heimat«, eine Broschüre mit Stadthistorie und Fotos von Else Feise, gedruckt bei Heinrich Rüttgerodt 1953. Die Universitätsbibliothek Göttingen hat es übrigens auch, aber nicht die Fotos dazu.

Die hat Funcke im PC. Aus dem Wissen entstanden bisher 30 Vorträge mit 11.600 Abbildungen, dazu zahlreiche Ausarbeitungen wie eben jene über die Kreishauptmänner. Der Schwerpunkt seines Interesses liegt auf der Historie der alten Einbecker Gastronomie, von A wie »Adler«-Gaststätte in der Benser Straße über »Bolles Gaststätte«, mit dem Beinamen »Auf der Insel«, weil von Wasser umgeben, bis zu W wie »Weißer Spitz« und Wunram.

Denn die Bedeutung und Funktion der Gasthäuser damals war, ohne schnelle Fortbewegungsmittel für jeden und digitale Medien, eine andere als heute. Das, was sich in den Gasthäusern abspielte, spiegelt auch das Leben damals, spiegelt Zeitgeschichte wider: Vom artigen Tanzstundenfoto »auf’m Saal« über Handgranatenweitwurf beim Hubebergturnfest 1941 bis zum Herzog von Windsor, der im Gasthaus »Zur Traube« am 19. August 1938 zu Gast war: »Lovely beer, but a better Landlord« schrieb er ins Gästebuch.

Spannend ist es, Funcke zuzuhören, vieles ist bald nachzulesen, denn zwei Bücher sind in Arbeit, eines zu Ausflugsgaststätten der Bürger, das andere zu alten Gasthäusern und Hotels in der Stadt seit dem Biedermeier. Die Sammlung macht ihm sichtlich Freude, auch wenn es viel Arbeit, Zeit und Kraft bedeutet und gut 2.000 Fotos noch auf ihre Zuordnung und Beschriftung warten.

Ähnlich Kempowski hegt er eine Vorliebe für Schreibwarenläden: Klebeecken, Pappen, selbstklebende Heftstreifen, dokumentenechte Plastikhüllen sowie Karteikästen - Funcke kennt’s, hat’s und schätzt all’ das zur dauerhaften Erfassung, damit den Unterlagen nichts passiert, wie etwa dem Brief von Bismarck vom 8. Oktober 1892, den ihm eine unbekannte ältere Dame schenkte: »Euer Wohlgeboren den Herrn Kaufmann Carl Friede Einbeck« war der Adressat, 1859 Mitbegründer des Credit Vereins und »concessionirter Agent« für Auswanderer.

In diesem Brief gab der ehemalige Reichskanzler »dem national liberal gesinnten Mann, dem Anhänger einer Partei, für die auch ich viel Sympathie gehabt habe« eine »getreue Schilderung meiner Entlassung«. Funcke freute sich sehr über dieses Dokument. Aber das Arbeitszimmer hat eine Tür, und die macht der Regionalgeschichtler auch mal gern von außen zu, denn Zeit mit Ehefrau Irmhild, Sport und Reisen sind ihm ebenso wichtig. Und die nächste Generation bekundete bereits zaghaftes Interesse an der Sammlung.des