Wenn Essen zum Problem wird: Aufklären und schnell helfen

Magersucht, Ess-Brech-Sucht, Binge Eating Disorder / Risiko vor allem für Mädchen / Gefährliche Spätfolgen / Ausdruck tieferer Nöte

Die Zahlen sind erschreckend, die Konsequenzen auch: Etwa jedes dritte Mädchen ist gefährdet, eine Essstörung zu bekommen. Und von denen, die tatsächlich unter Magersucht leiden, schafft es nur jede Dritte, nach einer Therapie ein normales Leben zu führen. Ebensoviele sterben daran. »Essen ist mehr als nur Ernährung«, mit einem gemeinsame Vortrag im Rahmen der Reihe »Goethe lädt ein« informierten die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Einbeck, Sabine Möhle, das Haus der Jugend und die Goetheschule über Essstörungen. Referentin war Anja Koop, Mitarbeiterin des Therapeutischen Frauenberatung Göttingen.

Einbeck. Zu dick, zu dünn: Das Thema Gewicht beschäftige viele Menschen und gerade Jugendliche, so Gleichstellungsbeauftragte Sabine Möhle. Jüngster medienwirksamer Fall sei das Bekenntnis der Sängerin Lady Gaga, die sich über Facebook als magersüchtig bekannte und die ihren Fans aber auch deutlich machte: Wenn sie esse, fühle sie sich gesund. Vor zehn Jahren habe es schon einmal den Anlauf gegeben, in Einbeck eine Selbsthilfegruppe zu gründen, die aber wieder eingeschlafen sei, da sich nicht genug Betroffene gemeldet hätten, erinnerte Sabine Möhle. Wichtig sei für Betroffene und ihre Familien aber zu wissen, dass es Informationen und Hilfe gebe und dass sie mit ihrem Problem nicht allein seien.

Anja Koop beschäftigt sich bei der Therapeutischen Frauenberatung Göttingen seit fünf Jahren mit Essstörungen, seit zwei Jahren arbeitet sie in einer stationären Einrichtung. Die Beratungsstelle gibt es seit 28 Jahren in Göttingen, und sind unter den Ratsuchenden 20 bis 25 Prozent Frauen und Mädchen mit Essstörungen. Aufklärung sei wichtig, machte sei deutlich; je früher, desto besser seien die Chancen auf Hilfe. Eltern, Angehörige und Freunde müsse man deshalb über Merkmale und Folgen von Essstörungen aufklären und sensibel machen. Wer Probleme mit dem Essen habe, brauche Hilfe. Eine Studie unter 7.000 Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren kommt zum Ergebnis, dass bereits 20 Prozent der Mädchen und Jungen in einer Risikogruppe sind, Essstörungen zu erleiden. Die Betroffenen würden immer jünger, so Anja Koop. Würden Mädchen älter, steige das Risiko: Bei 16-Jährigen liege es schließlich bei 29 Prozent. Bei Jungen sinke das Risiko zunächst, erst bei jungen erwachsenen Männern ab 21 Jahren seien Essstörungen wieder Thema.

Grund für Essstörungen sei eine verzerrte Körperwahrnehmung. Selbst mit Normalgewicht empfinde man sich häufig als zu dick. Betroffene würden nicht dem normalen Bedürfnis nach Essen folgen, sondern Nahrungsaufnahme beziehungsweise -verweigerung seien für sie Ausdruck anderer Probleme. Essen werde instrumentalisiert. Dahinter stehe nicht die Frage danach, was sie auf ihrem Teller hätten und was sie nicht essen wollten, sondern was sie im Leben nicht aushalten könnten, welchen seelischen Hunger sie hätten. Die Probleme könnten jedoch nicht ausgesprochen werden, und so äußere sich das in Essen oder Nicht-Essen.

Risikofaktoren für Essstörungen seien ein geringes Selbstwertgefühl, der Einfluss der Medien oder des Freundeskreises, sexueller Missbrauch, Veranlagung, Perfektionismus, Schlankheitswahn, Leistungsdruck, die familiäre Situation oder die Pubertät. Bei Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper gebe diese Art der Kontrolle ein Gefühl von Macht und Selbststeuerung.

Essstörungen, berichtete Anja Koop, seien die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Neben Mager- sowie Ess- und Brechsucht gebe es auch immer mehr Kinder und Jugendliche mit starkem Übergewicht. Magersucht habe die höchste Sterblichkeit aller psychischen Erkrankungen, etwa als körperliche Folge der Mangelernährung oder durch Selbsttötung nach jahrelangem Leiden. Rund ein Drittel der Betroffenen schaffe den Absprung aus der Erkrankung, führte sie aus, bei einem Drittel ändere sich nichts, und ein Drittel sterbe daran. Umso wichtiger seien frühe Aufklärung und professionelle Hilfe.

Von Magersucht, Anorexia nervosa, spricht man, wenn jemand sein Körpergewicht zwanghaft nach unten drückt. Es liegt eine Körper-Schema-Störung vor, und noch mit Untergewicht und einem Body-Mass-Index von 35 sehen die Betroffenen bei sich einen dicken Bauch. Das Gewicht hat Einfluss auf die Selbstbewertung: Niedriges Gewicht bedeutet einen guten Tag. Damit verbunden sind zahlreiche körperliche Folgeschäden, etwa durch Mangelernährung, aber auch sozialer Rückzug und Isolation. Ständig kreisen die Gedanken ums Essen. Bei Ess-Brech-Sucht, Bulimia nervosa, werden schnell riesige Mengen an Essen verdrückt. Bis zu 10.000 Kalorien können es in kurzer Zeit sein. Der Anfall geht mit Kontrollverlust einher, er ist nicht zu stoppen. Ausgeglichen wird er anschließend durch Erbrechen, Fasten, Abführmittel oder übermäßige Bewegung. Auch für diese Betroffenen hat die Figur höchsten Einfluss auf die Selbstbewertung. Sie haben jedoch eher Normalgewicht. Ihre Anfälle erfolgen in der Regel in aller Heimlichkeit, aber Scham, Rückzug und Depressionen können hier ebenso die Folge sein. Gesundheitliche Risiken bis hin zu Speiseröhrenrissen oder Gefahren für das  Herz können eintreten.

Esssucht ohne Erbrechen bezeichnet man als Binge Eating Disorder. Auch dabei kann man nicht aufhören zu essen, die Portionen liegen  außerhalb eines normalen Rahmens. Es folgt jedoch anschließend keine Kompensierung. Der Anfall geschieht aus Verlegenheit, aus einem deprimierten Gefühl heraus oder aus Schuldgefühl. Übergewicht und Fettleibigkeit, verbunden mit Scham und Rückzug, sind die Folgen. Insbesondere für Magersüchtige gilt, dass der Essvorgang für sie eine Qual ist. Da aber Nahrungsaufnahme lebensnotwendig sei, sie also permanent damit konfrontiert würden, brauchten sie eine engmaschige Begleitung, betonte Anja Koop.

Hilfreich und vorbeugend könnten unterstützende Beziehungen und Vorbilder sei. Eine gute Eltern-Kind-Bindung sei ebenso wichtig wie das Respektieren von Grenzen, die Wertschätzung in der Familie sowie eine gute Streit- und vor allem Esskultur. Auch mit Medien müsse man sich kritisch auseinandersetzen, denn schon Kinder würden durch deren Einflüsse geprägt. Eigene Klischees zu Schönheit, Dick- und Dünnsein sollten überdacht werden. Eltern sollten, wenn sie den Verdacht hätten, dass bei ihrem Kind eine Essstörung vorliege, das Gespräch anbieten, es aber nicht zur Rede stellen. Innerhalb der Familie beziehungsweise als Elternpaar müsse man eine gemeinsame Strategie vereinbaren, denn die Krankheit bringe viel Macht über das Familiensystem. Eltern sollten sich nicht unter Druck setzen lassen, durch welche Drohungen auch immer, und sie sollten sich Hilfe holen. Dabei sollten sie eigene Interessen weiter verfolgen, sich die eigenen Grenzen bewusst machen und die anderen Kinder nicht vergessen. »Das braucht eine gute Strategie«, berichtete Anja Koop aus ihrer Erfahrung. Für professionelle Unterstützung gebe es verschiedene Angebote; mitunter biete aber eine stationäre Therapie die besten Erfolgschancen für eine Genesung, denn die Betroffenen müssten das Essen von null an neu erlernen. Therapie und Nachsorge könnten über Jahre andauern. In der Diskussion wurde die Rolle der Prävention hervorgehoben, die deutlich mache: Nicht jede Frau müsse aussehen wie ein Top-Modell.

Die von Anja Koop vorgestellte Adressenliste über Beratungsstellen und Kliniken wird Sabine Möhle demnächst über die Internetseite www.einbeck.de zugänglich machen. ek