»Das Kind kann manche Dinge einfach nicht tun«

»Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten ...«-Autorin Katja Seide hält Vortrag beim Sterek

Autorin Katja Seide (Vierte von links) hat auf Einladung des Sterek einen anschaulichen und lebensnahen Vortrag über den Umgang mit Kindern in der Trotzphase gehalten. Mitorganisiert und begleitet wurde der Abend von (von links) Melanie Erdmann vom Einbecker Kinder- und Familienservicebüro (EinKiFaBü), Claudia Hartmann, Vorsitzende des Stadtelternrats der Einbecker Kindertagesstätten, dem zweiten Vorsitzenden Torsten Mäntz, Lene Garus-Jochumsen vom EinKiFaBü, Gunnar Schweigl, zweiter Vorsitzender des Einbecker Bündnisses für Familie, EinKiFaBü-Praktikantin Friederike Kraft sowie Andreas Manneck und Mathis Nielebock-Pahmeier, Schüler der Fachschule Sozialpädagogik berufsbegleitend der BBS Einbeck.

Einbeck. »Sie können nichts dafür.« Über den Umgang mit trotzigen Kindern hat die Autorin des Buches »Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch Trotzphasen« auf Einladung des Stadtelternrats der Einbecker Kindertagesstätten (Sterek) einen lebendigen Vortrag gehalten. Viele kindliche Verhaltensweisen, denen die Eltern unsicher oder ärgerlich begegneten, hätten ihre Ursache darin, dass das kindliche Gehirn noch nicht ganz ausgebildet sei.

Es nütze nichts, mit dem Kind zu schimpfen, sondern man müsse andere Wege finden. Die Großveranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Einbecker Kinder- und Familienservicebüro, dem Einbecker Bündnis für Familien als Schirmherrn und den Berufsbildenden Schulen Einbeck statt. Deren Schüler der Fachschule Sozialpädagogik berufsbegleitend sorgten für Moderation und Catering.

Für das Familienbündnis hieß der zweite Vorsitzende Gunnar Schweigl die mehr als 180 Zuhörer im BBS-Forum willkommen. Der zweite Vorsitzende des Sterek, Torsten Mäntz, freute sich über den guten Zuspruch sowie über die erneute Unterstützung der Sponsoren, der Sparkasse Einbeck und der KWS SAAT SE. Zusammen mit Danielle Graf hat Sozialpädagogin Katja Seide den Bestseller verfasst, auf dessen Titel ein grimmiges Kind zu sehen ist - ein Anblick, der wohl vielen Eltern vertraut ist.

Anhand von praktischen Beispielen zeigte sie in ihrem Vortrag auf, wie Eltern sich in Krisensituationen richtig verhalten. So berichtete sie zunächst von einem etwa Zweijährigen, der einen Joghurt essen möchte, dann aber so wütend wird, dass er den Becher umschmeißt. Er gerät immer mehr außer sich, und während man denken könne »Was für’n ätzendes Kind«, sei es in Wirklichkeit so, dass das Gehirn in diesem Alter bestimmte Dinge noch nicht könne.

Es könne spontane Abweichungen vom inneren Plan nicht aushalten - das beginne etwa ab dem dritten Lebensjahr. Außerdem seien Perspektivwechsel und auch Impulskontrolle noch nicht möglich - sie werden erst ab dem fünften Lebensjahr trainiert. Starke Gefühle setzten zudem das Sprachzentrum außer Funktion. Das Kind könne nicht mehr sprechen, und es kämen keine Argumente mehr an. Die Eigenregulation des Gehirns sei von starken Gefühlen überfordert, ein Kind in dieser Lage könne sich nicht mehr selbst beruhigen.

Die Lösung liege darin, dass das emotionale Gehirn Mimik, Gestik und Stimmlage der Mutter als beruhigend entschlüssele. Eine Generation von Tyrannen werde nicht heranzogen - es wirke allerdings so. Vielmehr hätten frühere Generationen »erlernte Hilflosigkeit« erlebt, so eine Formulierung des Psychologen Martin Seligmann, der das Entstehen in Experimenten nachgewiesen hat.

Früher seien kindliche Signale von Erwachsenen selten erhört worden. Egal, wie sie sich verhalten würden, es achte niemand auf sie, so der Eindruck der Kinder. Mit ein bisschen Druck von Erwachsenen seien »brave« Kinder herangewachsen, mit wenig Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein, allerdings mit viel Gelegenheit zum freien Spiel und zum Streit mit Freunden - gerade Streit sei wichtig, selbst wenn er handgreiflich werde. Das Bravsein habe sich positiv in Kindergarten, Schule und Ausbildung ausgewirkt.

Negativ seien die psychischen Folgen, das Einknicken vor höherer Macht und das geringe Selbstbewusstsein, etwa im Beruf. Heute würden kindliche Signale in der Regel erhört und feinfühlig beantwortet. Es gebe keine »erlernte Hilflosigkeit« in Bezug auf Erwachsene, die Kinder hätten gute Selbstwirksamkeit und gutes Selbstbewusstsein.

Allerdings könnten sie kaum unbeobachtet frei spielen und streiten, nahezu ständig seien sie unter der Aufsicht von Erwachsenen, die eingreifen würden. Das wirke sich negativ aus durch schnelles Einknicken bei Problemen. Nur scheinbar negativ sei, dass sie nicht so brav seien, sondern wilder und lauter. »Das ist aber ihr natürliches Verhalten.« Gut sei auch das Selbstbewusstsein gegenüber höherer Macht.

Allerdings mangele es mitunter an Lebenstüchtigkeit, und das könne, warnte die Autorin, zu einem Zusammenbruch der Gesellschaft führen, wenn etwa Generationen nicht mehr in der Lage seien, Ausbildungen zu Ende zu bringen. »Warum machen die das?«, diese Frage stellten sich viele Eltern angesichts der Verhaltensweisen ihrer Kinder. »Es gibt für Kinder immer einen guten Grund, etwas zu tun«, führte Katja Seide aus.

Sie könnten mitunter nicht leisten, was man von ihnen verlange. Dass Kinder abends immer wieder aus dem Zimmer kämen, liege daran, dass sich Kinder an Eltern gebunden fühlten. Das Einschlafen sei für das noch immer urzeitlich geprägte Gehirn ein Wagnis, es reagiere mit Stress. Deshalb werde das Bindungsbedürfnis aktiviert, und das Kind spüre - unbewusst - den Drang, zu seinen Eltern zu gehen. Weil es merke, dass es dort in dieser Situation nicht willkommen sei, denke es sich Ausreden aus: Durst, Toilette, Monster.

Wenn die Eltern richtig sauer würden, könne das Kind sein Bindungsbedürfnis ignorieren und schneller einschlafen. Eine Lösung wäre eine Einschlafbegleitung durch die Eltern, das Aufstellen eines Geschwisterbetts, in kurzen Abständen nach dem Kind zu schauen sowie selbstbestimmtes Einschlafen, bei der das Kind auf die eigene Müdigkeit hört. Warum lässt das Kind beim Spaziergang seinen Puppenwagen immer wieder stehen?

Für Planung und Durchhaltevermögen ist, wie auch für die Impulskontrolle, der präfrontale Kortex zuständig. Er wird erst mit zunehmendem Alter trainiert, ganz kleine Kinder können also noch nicht planen oder durchhalten. Eigene Bedürfnisse wie Müdigkeit oder Nähe können sie aber gut erspüren.

Wenn die Eltern das Kind unterwegs hochnehmen und den Puppenwagen tragen, lernt das Kind, dass man sich hilft - und der Spaziergang wird vermutlich doch noch erfolgreich vollendet zu Ende gebracht. Am besprochenen Ort zu warten, überfordert Kinder ebenfalls. Das Gehirn geht dann in einen Leerlauf - die Kinder träumen oder kommen auf seltsame Ideen. An einem unbekannten Ort haben sie zudem Angst, was das Bindungsbedürfnis aktiviert.

Sie suchen daraufhin die Eltern, statt zu warten. Gibt man dem Kind eine Aufgabe, bleibt es eher am verabredeten Ort. Das Ausrasten beim Abholen vom Kindergarten konnte Katja Seide ebenfalls schlüssig erklären: Den ganzen Tag haben die Kinder funktioniert, was eine starke Anpassungsleistung ist. Wenn die Bindungsperson kommt, der »sichere Hafen«, freut sich das Kind - und das ist der Punkt, an dem es den Stress der Anpassung loswerden kann.

Es lässt sich fallen, was ein wichtiges Element der Psychohygiene ist. Eltern, so der Rat, müssten das aushalten und ihr Kind trösten, Erzieher sollten ihnen dazu Zeit lassen. Alternativ sei es möglich, das Kind von jemandem abholen zu lassen, zu dem die Bindung nicht so eng sei. Viele Situationen, so Katja Seides Bilanz, könne das Kind nicht ändern, auch bei Lob oder Strafe nicht.

Es fehlten die Voraussetzungen auf entwicklungspsychologischer Ebene: »Das Kind kann die Dinge einfach nicht tun.« Eine andere Möglichkeit sei, dass das Verhalten eine für das Kind zielführende Strategie darstelle, um ein Bedürfnis zu befriedigen oder auf ein Problem aufmerksam zu machen. Eltern und Erzieher müssten den Kindern helfen, bis die Voraussetzungen gegeben seien beziehungsweise ihnen andere Strategien aufzeigen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.ek