Wie der Weihnachtsbaum nach Einbeck kam

1570: Der erste Bürger schmückt sein Heim nicht mehr mit Zweigen, sondern übernimmt Brauch aus Bremen

Weihnachtsbaum auf dem Einbecker Marktplatz in einer historischen Aufnahme.

Einbeck. Einbeck 1570. Obwohl es schon fast Mitte Dezember war, lag noch kein Schnee. Nach einem eher mäßigen Sommer hatte der ungewöhnlich sonnige Herbst den Bürgern eine reichliche Ernte aus ihren Gärten vor der Stadt gebracht, die Vorratskammern waren gut gefüllt. Das ganze Jahr über konnte man die Wagen mit Fässern durch die Tore ziehen sehen. Und das Einbecker Bier wurde endlich wieder in großen Mengen gebraut und verkauft.

Drei Tage später schlug das Wetter um. Ein eiskalter Wind strich um die Häuser. Färbermeister Heinrich Lambrecht zog den Kragen seines Umhanges hoch und ging quer über den Marktplatz in Richtung Lange Brücke. Er wollte Matthäus Cordewan besuchen, bei dem sein ältester Sohn Jost in die Lehre ging. Kurz bevor in die Gasse beim Spiritus-Hospital einbog, musste er an Dietrich Raven denken.

Oft war er ihm hier begegnet, die Ravens besaßen an dieser Seite des Marktplatzes mehrere Häuser, deswegen wurde dieser Teil der Stadt auch manchmal das Rabennest genannt. Erst vor zehn Jahren hatte der damalige Bürgermeister seine Dorothea aus Hannover geholt und prunkvoll Hochzeit gehalten. Lambrecht konnte sich noch gut an eines der Hochzeitsgeschenke erinnern, eine eichene Truhe mit vier Familienwappen.

Gerade mal 46 Jahre alt, erkrankte Raven plötzlich an einem Steinleiden und verstarb am 2. Oktober. Fast ganz Einbeck kam zu seiner Beerdigung. Die Leichenpredigt hielt Pastor Feel. Der Geistliche war im Mai nach Einbeck gekommen. Als Raven drei Wochen unter der Erde lag, brachen große Stürme über der Stadt los. Die Bürger verrammelten ihre Fenster oder verstärkten sie durch Bretter.

»Gottseidank ist die Ernte schon drinnen«, hörte man die Leute sagen. Pastor Feel, der schon kurz nach seiner Amtseinführung durch seine scharfen und eindringlichen Predigten auffiel, sprach sogar von einem Zeichen des Jüngsten Gerichtes. Jetzt war Dorothea Raven allein in ihrem großen Haus. Natürlich war ihr Gesinde ständig in ihrer Nähe, doch Dorothea hatte sich zurückgezogen.

Sie sprach kaum noch und ging nicht mehr vor die Tür. Lambrecht seufzte und durchquerte die Gasse. Als er nach rechts in die Knochenhauerstraße einbog, sah er Meister Cordewan vor seinem Haus stehen. Der winkte ihn freundlich heran, und die beiden Männer begrüßten sich herzlich. Nach den üblichen Begrüßungsformeln sprachen sie zuerst über Allgemeines, dann über den jungen Götz von Ohlenhusen, der sich in der Weltgeschichte herumtrieb und das neue Haus in der Wolperstraße 23.

Schließlich mündete das Gespräch bei der Prinzessinensteuer, einem Thema, das immer noch Stadtgespräch war. Die Stadt Einbeck sollte zur Vermählung der Herzogstochter Elisabeth 2.500 Taler beisteuern. Trotz aller Proteste und Verweise musste der Rat am Ende 1,500 Taler hergeben. Bevor Cordewan zum nächsten Thema übergehen konnte, kam Lambrecht zum Grund seines Kommens: »Jost hat jetzt seine vier Jahre bei Euch verbracht.

Nach dem, was er mir erzählt, hat er viel bei Euch gelernt, und Ihr habt ihn fast wie Euren eigenen Sohn behandelt. Was denkt Ihr Euch für seine Zukunft«? Cordewan lächelte. »Ihr werdet’s Euch sicher schon gedacht haben, Jost kann bei uns bleiben. Ich habe noch nicht mit ihm geredet. Vorher wollte ich mit euch Rücksprache halten. Er hat sich bei mir sehr geschickt angestellt, und ich möchte ihn nicht mehr in meinem Geschäft missen«.

Lambrecht war beruhigt und erleichtert zugleich. Er hatte zwar insgeheim mit dem Angebot gerechnet, aber als Cordewan es ausgesprochen hatte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Im Innern des Hauses war Jost gerade dabei, eine Rolle Leder aus Cordoba zu prüfen. Ganze drei Monate war die Ware unterwegs gewesen, bis sie in Einbeck ankam. Er hörte Schritte von der Stiege. Floreke Cordewan kam in den Raum, und Jost nahm sie in die Arme.

»Hast Du schon gehört? Vater will am Heiligen Abend keine Zweige mehr aufhängen, sondern einen ganzen Baum aufstellen lassen«. Jost nickte. »Ich weiß, die Knechte von Arnd Koch und Jakob Brokmann haben es in der Schenke erzählt. In Bremen werden in diesem Jahr einige Kaufmannsfamilien einen mit Äpfeln und geschmückten Baum aufstellen und Geschenke darunterlegen. Meister Cordewan und einige andere Bürger wollen es den Bremern gleichtun«.

Ein Geräusch schreckte die jungen Leute auf. »Vater kommt zurück.« Floreke sprang zur Stiege und lief die Stufen hinauf. Zwei Wochen später lag eine feine Schneeschicht wie Puderzucker über der Stadt. Die Glocken der Neustädter-, Markt- und Münsterkirche läuteten zum Christ-Gottesdienst. Festgewandete Bürger stapften mit ihren Familien durch den Schnee. Kinder im Sonntagsanzug liefen voraus und manche, die ein zu arges Spiel im Schnee trieben, wurden von ihren Müttern zurückgerufen.

Der neue Brauch, einen geschmückten Baum in die Stube zu stellen, hatte sich mittlerweile in der ganzen Stadt herumgesprochen. Die wildesten Gerüchte gingen um. Einige glaubten, der Baum wäre mindestens 50 Fuß hoch, andere wollten gehört haben, dass die Reichen Geldrollen und Geschmeide an den Baum hängen.

Diejenigen, die dem Neuen misstrauisch gegenüberstanden, wetterten dagegen und sagten, Bäume ohne Sinn zu schlagen, verstoße gegen Gottes Gesetz. Seit drei Tagen lief ein unbekannter junger Mönch durch die Straßen und drohte allen mit dem Jüngsten Gericht, die einen dieser verfluchten Bäume in ihren Stuben aufstellen sollten.wk